Dialoge
„Der Maler der Zukunft, das ist ein farbiger, wie es ihn noch nie gab".
Als Vincent van Gogh dieses an seinen Bruder Theo schrieb wurde ihm klar, daß es die Farbe sein würde, die künftig in der Malerei eine herausragende Rolle spielen würde. Die Entwicklung der Kunst, insbesondere nach 1900, hat seine Vision bestätigt.
Auch für Ursula Jüngst ist die Farbe von geradezu vitaler Bedeutung. Ihre Entwicklung dahin verlief nicht immer reibungslos, zumal die Konzeptionalisten der Nürnberger Kunstakademie ihr eher verständnislos über die Schulter blickten. Doch durch das Studium in Barcelona, vor allem die Wahrnehmung von Landschaft und Farbe unter dem Einfluß des südlichen Lichts hatte sie ihren Weg gefunden. Ihre längeren Arbeitsaufenthalte in Barcelona sind für ihre Arbeit wichtige visuelle Stimulans.
Die Ausdruckskraft ihrer Bilder lassen zwar Einflüsse der Expressionisten und Surrealisten erkennen – und doch gelingt es ihr, zu ganz neuen, unkonventionellen Bildlösungen zu gelangen. Die Vielschichtigkeit ihres malerischen Werks, geprägt von mehreren Entwicklungssträngen, verbietet daher eine eindeutige Zuordnung.
Da sind zunächst die Gemälde, die vor Farbe förmlich explodieren. Das Auge des Betrachters ist ständig herausgefordert, Neues zu entdecken.
Dynamik und Unmittelbarkeit werden im unruhigen, oftmals mehrfach übereinandergesetzten, dicken Pinselduktus deutlich, dann eröffnen sich wieder feinste Binnenstrukturen auf nur teilweise überlagerten Farbschichten - monochrome Farbflächen zwischendrin scheinen als Ruhepole das Bildgefüge zu stabilisieren.
Die Wahrnehmung ihrer Gemälde geht Hand in Hand mit der Assoziation eigener Bilder und Erfahrungen. Ihre Bildformen sind nicht figurativ, dennoch erinnern sie teilweise an Biomorphes, an kosmische Gebilde, an Erscheinungen der Natur.
Ursula Jüngst Prozeß künstlerischer Bildfindung erfolgt nicht unmittelbar aus der Wiedergabe von Wahrgenommenem, sondern über das Abrufen innerer, quasi sedimentierter Bilder, die sie mittels einer Art „écriture automatique" auf der Leinwand entwickelt, einer Methode, derer sich bereits die Surrealisten bedienten.
Ihre Bildlösungen sind jedoch keineswegs epigonenhaft. Neu ist die Frische und Ursprünglichkeit ihrer Farben und Formschöpfungen, die wie eine musikalische Komposition eine Bewegtheit aus unterschiedlichsten Klängen und Rhythmen ergeben.
Die Arbeiten, die zwischen 1996 und 1999 entstanden sind, erinnern mitunter an die ursprüngliche Farbigkeit volkstümlicher Bildteppiche oder an den überbordenden sinnlichen Reichtum orientalischer Basare.
Der Betrachter kann aus dem offenen vielschichtigen Formengefüge Erfahrungen, Mythen aus dem Unbewußten assoziieren, ein Vorgang, den Ursula Jüngst als „Archäologie des Unbewußten" bezeichnet.
Ihre Arbeiten erschließen sich dem Betrachter jenseits rationaler und analysierender Erklärungen, „durch unsere Fähigkeit zur lebhaften Erinnerung an die unbefangene Erlebnisdichte der Vorstellungskraft, mit der wir als Kinder begabt waren. In unserer Kindheit besaßen wir ein magisches Bewußtsein, und der magische Teil unseres Bewußtseins ist es, den die Kunst letztlich in uns anspricht."
Insbesondere in einer Zeit medialer Bildüberflutung, in der es weniger um die intensivere Auseinandersetzung mit dem einzelnen Bild geht, stellen die Arbeiten von Ursula Jüngst eine Herausforderung dar. Durch die Wahrnehmung ihrer Bilder, aus der heraus Dialoge entstehen ist es möglich, verschüttete Erfahrungen wieder lebendig werden zu lassen und Dimensionen des „inneren Kindes" wachzurufen.
Die Streifzüge der Künstlerin durch innere Erlebniswelten dokumentieren ihre ungewöhnlichen Bildtitel wie auch ihre eigenen, poetisch anmutenden Texte zum künstlerischen Entstehungsprozeß. So schrieb sie zu dem Bild „Patke Patke" (2002): „... Ein kleiner Ausschnitt einer Wiese. Erst ist da nur Grün, dann entdecke ich quirliges Leben. Tiere, Tierchen, Gesichter, Augen, verschiedene Farben, Licht und Schatten. Die Leinwand schwingt leicht bei der Berührung des Pinsels. Ein Sog. Nichts ist starr ...".
Neben den Arbeiten, die eine Vielzahl an Form- und Farbstrukturen aufweisen, gibt es Gemälde, die vorwiegend monochrom und mit kräftigem Pinselstrich gefertigt sind. Die Arbeiten „Busco" (1997) und „Ali" (1997) markieren bereits diese andere Entwicklungslinie; die Komposition scheint sich aus der Bildmitte zu entwickeln.
Neuere Arbeiten wie „Pana Napa" (2002) und „Patke Patke" (2002) sind malerisch feingliedriger angelegt. Die nach außen drängelnden, züngelnden Liniengebilde erinnern an Prozesse des Wachstums, der steten Veränderung.
„Alles ist in Bewegung. Scheint zu Bersten ... Wege, Berge, Täler, Landschaften wachsen. Farbschicht auf Farbschicht verdichtet sich das Bild immer mehr zu einer komplexen Welt, in der Makro- und Mikrokosmos sich gleichsam zu Einem verweben."
Der Bildzyklus AZULEN, der 1999 in Spanien entstanden ist, bildet eine gesonderte Werkreihe. Statt der quirligen Ausdruckskraft der Gemälde, die an Farbtänze erinnern, dominiert hier eine eher verhaltene Bildwirkung. Gleichmäßig aufgetragene Farblasuren lassen Farbräume entstehen. Das schmale Hochformat der Arbeiten bewirkt Strenge und Konzentration.
Der Name AZULEN ist vom spanischen ‚azul'= blau abgeleitet. Auch das Wort ‚azulejos' liegt nahe, das die Wandfliesen bezeichnet, die von den Mauren seit dem 14. Jahrhundert in Spanien und Portugal verbreitet wurden.
Blau bestimmt zwar den Farbklang dieser Werkreihe, hier und da blitzt jedoch ein Gelb, ein Rot, ein Weiß hervor, das die Wirkung des Grundtons noch steigert. In fast allen Arbeiten ist senkrecht ein monochromer Farbstreifen angelegt, der sich entweder als schmaler heller Lichtstrahl oder auch als sich verbreiternder Farbstrom Blau durch das Bild zieht.
Die Farbe Blau bestimmt ganz wesentlich die besondere Wirkungskraft der AZULEN. Goethe hat sie in ihrer „sinnlich-sittlichen" Wirkung als „fliehend" bezeichnet; für Kandinsky war sie eine „Vertiefungsfarbe", die den Menschen ins Unendliche ruft. Blau mag Bereiche des Kosmischen ansprechen. Der ruhige, gleichmäßige Farbauftrag der AZULEN unterstreicht dabei die Bildwahrnehmung, die auch als Zuwendung zum eigenen Inneren, als Suche nach dem „Ideal der Einheit" jenseits irdischer Dimensionen interpretiert werden kann.
Das Essener Ausstellungsprojekt in der Galerie im Schloß Borbeck und in der Marktkirche Essen möchte somit auf die verschiedenen Werkaspekte Ursula Jüngsts verweisen. Während die Galerie einen Querschnitt der vor Farben überströmenden Arbeiten sowie eine Auswahl der Zeichnungen zeigt, wird in der Marktkirche eine Installation aus der Reihe der AZULEN im Altarbereich präsentiert.
Die beiden Ausstellungsorte stellen nicht nur künstlerisch, sondern auch historisch eine interessante Verbindungslinie her. Die Gründerin der vormaligen „Gertrudiskapelle" im 11. Jahrhundert war Theophanu, Äbtissin des bedeutenden Essener Frauenstifts. Seit dem 14. Jahrhundert, als sich die Stadt zunehmend zur Bürgergemeinde mit Stadtrecht und Selbstverwaltung etabliert - wofür die Marktkirche auch symbolisch steht - wird die Residenz der Fürstäbtissinnen vom Kern des Ackerbürgerstädtchens zum Schloß Borbeck verlegt.
Die Installation der meditativ wirkenden Stelen stellt zudem einen interessanten Dialog zwischen Architektur und Kunst her. Sie verweist somit auf die Pläne der bevorstehenden Neugestaltung des Kircheninnenraums, der im Entwurf als blauer Glaskubus vorgesehen ist, welcher sich im Hauptschiff von Osten nach Westen bis in den Außenbereich erstrecken soll.
Das Verbindungsglied beider Präsentationsorte liegt jedoch vor allem in dem Werk selbst begründet, das trotz der Vielfalt einen gemeinsamen Nenner hat: Nicht nur der künstlerische Entstehungsprozeß, sondern auch die suggestive Wirkungskraft der Bilder Ursula Jüngsts werfen existentielle Fragen auf: „Zu malen heißt für mich ... nachzudenken über die Welt, ins Bewußtsein zu holen, Schöpfung immer wieder neu zu erinnern ..." und „... zu malen ist auch unterwegs zu sein, mich auszusetzen, zu suchen. Nichts ist starr, ich habe keine endgültigen Antworten."
Inge Ludescher, 2003